Die Sinnkrise

Für die nächsten 2 Tage gibt es keine Fotos. Wer den Text liest, kann erahnen, warum.

Dienstag, 10.5.2016tag1_bermuda

In der Nacht gab es keine besonderen Vorkommnisse. Seit gestern immer das Gleiche. Die Segelstellung ist unverändert, der Wind bläst mit 4-5 aus E, die Wellen schlagen an die Bordwand und manche schaffen es auch bis ins Cockpit. Frühstück? Wie? Muss aber auch nicht sein, da die Appetitlosigkeit immer noch vorhanden war. Hin und wieder mal etwas trinken. Cola ist bei uns in diesen Situationen sehr beliebt, und eine Banane hineinzwängen. Beim Anziehen unter Deck erreicht der Magensaft den Kehlkopf. Aber es geht noch. Volker löse ich von seiner Wache ab und er ist froh, dass er jetzt endlich seinem aufkommenden Würgereiz freien Lauf lassen kann. Es hört sich nicht schön an, aber er fühlt sich danach anscheinend viel wohler. Das Kinderlied „Eine Seefahrt, die ist lustig..“ geht mir durch den Kopf. So langsam kommt auch die Frage nach dem „Warum“ auf. Die zwei Stunden Wache gehen noch verhältnismäßig schnell um. Aber danach? Es gibt nichts zu tun und selbst wenn man wollte, es macht kein Spaß und geht auch wirklich nicht so richtig. Und wir sind noch nicht einmal einen ganzen Tag unterwegs. Scheinbar endlos lang! Um 1130 tag2_bermudaUhr lesen wir auf unserem Hand-GPS unser Tages-Etmal ab: 156 Nm. Das ist ein Schnitt von sagenhaften 6,5 kn. Nach der ersten Freude kommt die Ernüchterung. 156 Nm von 860 Nm. Da bleibt ein Rest von 704 Nm. Und überhaupt. 6,5 kn sind gerade einmal 12 km/h und das bei einer Gesamtstrecke von 1.550 km. Wie kann man sich darüber freuen? Wenn nur endlich das Unwohlsein aufhören würde. Die Appetitlosigkeit kommt meiner Figur ja sehr entgegen. Trotzdem. Auch unser Angelzeug liegt unberührt in der Kiste. Keine Lust und natürlich auch der Respekt davor. Wie soll man bei einem solchen Seegang und der Fahrt einen Fisch an Bord holen? Übel ist uns jetzt auch schon ohne Fisch. Ich glaube, der Fisch würde den Kampf gewinnen. Die Zeit rinnt dahin. Langeweile, Unwohlsein, Kopfkino. Mal die harte Pritsche im Cockpit, dann wieder in die Koje unter Deck. Abends kommen ein paar Delphine zu Besuch. Der Tag geht, die Nacht kommt. Gleiche Segelstellung, gleicher Wind, Schräglage, Wellen, Wasser bis ins Cockpit.

Mittwoch 11.5.2016

Es ist bedeckt. Der Wind scheint etwas nachzulassen. Wir geben mehr Tuch und nehmen das 2. Reff raus, gegen 1130 Uhr nehmen wir auch das 1. Reff weg. Das Tages-Etmal liegt diesmal bei 147 Nm (6,1 kn). Immer noch gut. Warum mache ich das? Es geht mirtag3_bermuda immer noch nicht viel besser. Noch mindestens 4, wahrscheinlich sogar 5 Tage. Und danach die Etappe zu den Azoren: 16 Tage bei unvorhersehbaren Wetterverhältnissen. Das will ich nicht mehr. Ich kämpfe mit einer „Sinnkrise“, bin nahe an einer Depression. Es gibt hier keinen Ausweg. Da muss ich durch. Aber nochmal bis zu den Azoren? Nein! Ich treffe jetzt eine Entscheidung. Auf den Bermudas ist für mich Schluss. Ich spreche mit Volker und Christopher. Sie zeigen Verständnis. Volker war immer schon nicht die treibende Kraft für diese Tour. Das war ich. Er will dann auch nicht weiter fahren. Christopher wollte hauptsächlich die Atlantiküberquerung mitmachen. Für ihn war diese erste Etappe nur eine kleine Extra-Tour. Er war entsprechend enttäuscht. Die Nachricht schicken wir per SMS über das Satelliten-Telefon in die Heimat. So kann Udo vielleicht noch seine Flüge stornieren. Er wollte unsere Crew auf den Bermudas ergänzen und mit uns zu den Azoren fahren. Was eigentlich nur zur Information gedacht war, schlägt zuhause große Wellen. Was ist passiert? Streit? Die SMS gibt dazu nicht viel her. Liegt in der Natur dieser Nachrichten: Short Message. Das war natürlich nicht meine Absicht. Mich interessierte Udo´s Meinung. Aber zunächst schwiegen die Satelliten. Wir segelten tag4_bermudaweiter. Die Wellen und der Wind wurden schwächer. Fast wie angekündigt, nur jetzt etwas zu früh. Ich weiß nicht wie viele Male ich unseren Dieseltankinhalt und die daraus hoffentlich und wahrscheinlich resultierende Strecke im Kopf errechnete. Nicht zu früh den Motor anstellen. Segeln, solange es irgendwie geht. Das Problem dabei ist, dass die Fahrt immer langsamer wird und das Ziel in scheinbar immer weitere Ferne rückt. Wo ist meine Gelassenheit? Was halte ich hier nicht aus? Wir haben keine Probleme. Alles läuft einfach wie am Schnürchen. Gegen 1600 Uhr haben wir noch etwa 9-10 kn Wind, gerade einmal 3 Bft. Die Nacht fahren wir noch unter Segel durch, mal dümpelnd, dann wieder mit guter Fahrt.